Die Zeiten, in denen KI in der Rechtsbranche nicht viel mehr als ein glorifizierter Rechtschreibprüfer war, sind vorbei. Was vor wenigen Jahren noch nach Science-Fiction klang, ist heute Realität: Agentic AI – Systeme, die nicht nur unterstützen, sondern eigenständig handeln können. David, CEO & Co-Founder von Legartis, moderierte kürzlich ein faszinierendes Gespräch zwischen Kai, Co-Founder des Liquid Legal Institute, und Gordian, CTO bei Legartis. Die drei diskutierten, wie diese neue Generation von KI-Systemen die Rechtsarbeit fundamental verändert.
David: "Bislang war KI im Legal-Bereich ein Rechtschreibprüfer – Drafting, Flagging, möglicherweise Zusammenfassungen. Jetzt betreten wir tatsächlich das Zeitalter agentischer Systeme. KI, die handelt, nicht nur assistiert."
Damit verschiebt sich der Fokus: Weg von einzelnen Prompt-Helfern, hin zu koordinierten Agenten-Workflows, die echte Arbeitsschritte übernehmen – mit Werkzeugzugriff, Gedächtnis und Rückkopplung. Das war der Ausgangspunkt für ein tiefgehendes Gespräch über die technologischen Grundlagen, praktischen Anwendungen und strategischen Herausforderungen von Agentic Legal AI.
Gordian erklärte zunächst die technischen Grundlagen: "2025 war das Jahr des Agenten. Ein Agent ist im Wesentlichen ein Framework um ein Large Language Model herum."
Die entscheidende Frage dabei: Warum reicht das LLM allein nicht aus? Gordian machte deutlich: "Traditionell hat das Large Language Model selbst nur die Daten aus dem Training, das ihm gegeben wurde, und natürlich dann alles, was der Nutzer während eines Chats eingibt. Der Nachteil ist natürlich, dass diese Trainingsdaten sehr schnell veraltet sind und das Training auch sehr teuer ist – es kann bis zu einem Jahr dauern und Milliarden Dollar kosten."
Die Lösung liegt in vier Schlüsselelementen eines agentischen Frameworks:
Gordian führte dann zum Konzept der agentischen Frameworks: "Der nächste große Schritt ist nicht nur ein Agent, sondern ein großes agentisches Framework, bei dem mehrere Agents miteinander kommunizieren können."
Als Beispiel nannte er die Reiseplanung: "Der Nutzer plant die Reise. Du möchtest vielleicht sehr spezifische Agents haben, die verschiedene Teile dieser Reiseplanung übernehmen. Zum Beispiel sammelt einer Aktivitäten, einer schaut sich Unterkünfte an, einer ist für die Budgetierung verantwortlich, und dann gibt es natürlich einen Agenten, der all diese Sub-Agenten koordinieren muss."
David hakte nach: "Was ist jetzt die große Verschiebung von Agents zu agentischen Frameworks in einem Satz?"
Gordian: "Die größte Veränderung ist die Standardisierung. Vor allem das MCP – Model Context Protocol – war wahrscheinlich das Schlagwort, das einige von euch gehört haben. Das bedeutet im Grunde, dass die meisten Plattformen oder SaaS-Tools zukünftig ihre Tools auf standardisierte Weise zugänglich machen werden, sodass jeder diese Tools fast Plug-and-Play in den Kontext für seine Modelle oder Agents hinzufügen kann."
Als erfahrener Praktiker brachte Kai die Diskussion auf die praktischen Herausforderungen der Implementierung: "Wir beschreiben wieder eine schöne neue Welt mit neuen Begriffen – ihr erwähnt MCPs und Frameworks, Agentics – und wahrscheinlich ist die große Frage: Was bedeutet das für uns?"
Seine Analyse strukturierte er entlang dreier Dimensionen:
"Wenn du dir den People-Aspekt anschaust, ist das für mich die größte Herausforderung: Wie bekommt man sie an Bord oder hält sie an Bord? Denn das ist ziemlich verwirrend."
Die Zukunft, so Kai, liegt in interdisziplinären Teams: "Die Zusammensetzung dieser zukünftigen Teams – wir sagen das seit Jahren: Das Team besteht nicht nur aus Juristen. Es gibt Juristen mit IT-Leuten, und jetzt, um diese neuen Verbindungen aufzubauen, müssen nicht nur die beteiligten Personen wachsen und sich vielleicht ein wenig verändern, sondern auch die gesamte Organisation."
"Du musst dein Geschäft kennen, richtig? Wenn du nicht weißt, wie der Prozess funktioniert und wie die Dinge vollständig ins gesamte Unternehmen integriert sind... Wie macht man Contract Lifecycle Management, ohne genau die Berührungspunkte zu kennen? Und wie erschafft man eine Agent-Welt der Zukunft, ohne genau zu wissen, was die definierten Aufgaben sind?"
"Es sind die grundlegenden Fähigkeiten. Wie viel Tech-Wissen brauchen wir? Müssen Juristen wirklich zu Techies werden? Ich bezweifle es. Aber du musst auf Augenhöhe sprechen können. Wenn du nicht die gleiche Sprache sprichst, wenn du Begriffe verwendest, die die andere Seite nicht versteht, kannst du nicht zusammenarbeiten."
Gordian ergänzte aus IT-Perspektive: "Kai erwähnte schon einige. Ich fand es auch irgendwie lustig, von der anderen Seite zu hören: Müssen Juristen mit Tech-Leuten sprechen? Bei Legartis hatte ich von der anderen Seite abgestimmt. Ich fange mit dem Dev-Team an und wir sagten: Wir brauchen tatsächlich Juristen, die mit unseren Devs sprechen, damit wir tatsächlich ein Produkt bauen können, das am Ende Sinn ergibt."
Ein kritischer Punkt in der Diskussion waren die Risiken agentischer Systeme. Gordian warnte: "Das große Language Model kann nicht zu hundert Prozent kontrolliert werden. Es gibt keine Möglichkeit, das zu tun."
Er illustrierte dies mit einem praktischen Beispiel: "Nehmen wir an, du hast einen einfachen Agenten, der dein E-Mail-Postfach lesen kann, aber auch automatisch antworten kann. Das scheint ein sehr schöner Use Case zu sein. Du bekommst vielleicht eine Kundenanfrage, und dein Agent hat auch Zugang zu deiner Wissensdatenbank und kann sofort antworten. Aber was passieren kann: Die Person, die die E-Mail schreibt, kann versuchen, das Modell dazu zu bringen, alle deine anderen E-Mails zu versenden."
Die Lösung? "Das kann gemildert werden, indem man die Tools, mit denen ein Modell kommunizieren kann, auf die richtige Weise implementiert. In diesem Beispiel sollte das Modell oder der Agent nur Zugang haben, um auch die E-Mail zu lesen, die der Absender geschrieben hat, oder vielleicht den gleichen Konversationsthread."
Gordians Fazit: "Am Ende implementieren wir bereits KI, aber wir sind immer noch bei den Grundlagen von IT-Projekten, richtig? Das ist ein Risiko, aber auch etwas, das gemildert werden kann, wenn man es richtig macht."
David stellte dann eine konkrete Anwendung vor: den Legartis Contract Playbook Creator. "Bei Legartis haben wir unsere Entwicklung wirklich auf einen konkreten Use Case fokussiert. Wir wollten die Erstellung von Playbooks beschleunigen und optimieren – etwas, worüber in der Branche schon seit geraumer Zeit gesprochen wird."
Er identifizierte drei zentrale Hürden, die bisher Showstopper waren:
Die Demonstration zeigte, wie der Contract Playbook Creator diese Hürden überwindet: Durch einen strukturierten Dialog erfasst das System die Anforderungen, erstellt automatisch Testsets zur Qualitätssicherung und ermöglicht dem Nutzer, die KI selbst zu steuern und zu verbessern.
Kai war beeindruckt: "Als du den Contract Playbook Creator das erste Mal vor über dreißig General Counsels präsentiert hast, sah ich Kinnladen herunterklappen, weil das etwas ist, worauf wir als Branche, als Legal Departments, schon seit einiger Zeit warten."
Trotz der beeindruckenden Möglichkeiten betonte David die notwendigen Investitionen: "Was wir sehen, ist: Du brauchst immer noch ein bisschen Zeit. Wenn du tatsächlich Playbooks erstellen willst, musst du bereit sein, dich hinzusetzen und erstens dieses Gespräch mit dem Playbook Creator zu führen."
Er identifizierte vier Schlüsselfaktoren:
Kai teilte seine Vision für die kommenden Jahre: "Wir haben beim Liquid Legal Institute einen Schritt zurück gemacht und einen sehr strukturierten Ansatz gewählt: Lasst uns so etwas wie ein Foresight Office aufbauen mit:
Für 2026 identifizierte Kai mehrere Schlüsselthemen:
Das Gespräch zwischen David, Kai und Gordian macht deutlich: Agentic Legal AI ist keine ferne Zukunftsvision mehr, sondern bereits Realität. Die Technologie hat das Potenzial, die Rechtsarbeit fundamental zu verändern – von der Art, wie Verträge geprüft werden, bis hin zu den Rollen und Verantwortlichkeiten in Rechtsabteilungen und Kanzleien.
Aber die technologischen Möglichkeiten allein garantieren noch keinen Erfolg. Wie die drei Experten übereinstimmend betonten:
Gordians pragmatisches Schlusswort bringt es auf den Punkt:
"Am Ende haben wir die Human-in-the-Loop. Ich denke - besonders im Legal-Bereich - gibt es keinen Weg daran vorbei, zumindest nicht jetzt. Deshalb haben wir Human-in-the-Loop auch beim Contract Playbook Creator und bei der Vertragsprüfung mit Legartis eingebaut: Während des Testens und auch während der Analyse. KI ist in jedem Schritt da, um zu assistieren. Unser Job ist es natürlich, diesen Prozess zu beschleunigen, sodass man sich mehr auf die eigene Arbeit konzentrieren und KI immer mehr und mehr assistieren kann. Aber die Loop – ich denke, die wird sehr wertvoll bleiben."
2025 mag das Jahr der Agenten gewesen sein. Aber 2026 und die Folgejahre werden zeigen, ob die Rechtsbranche bereit ist, diese neue Ära nicht nur technologisch, sondern auch organisatorisch und kulturell zu gestalten. Die Tools sind da. Jetzt liegt es an uns, sie klug und verantwortungsvoll einzusetzen.
Dieser Blog basiert auf einem Gespräch im Rahmen der Legal AI Talk-Reihe mit Kai (Co-Founder des Liquid Legal Institute), Gordian (CTO bei Legartis) und David (CEO und Co-Founder von Legartis).